Fachtagung Kinderschutz im SPFW 21./22. Juni 2006

Referent: Ekkehard Ehler, STIBB e.V.

Signale – Symptome – Folgen

Wie wir aus dem vorangegangenen erfahren haben, ist von entscheidender Bedeu­tung für das Missbrauchsgeschehen, wie die sexuelle Gewalt am Kind oder dem Jugendlichen vom Täter unter spezifischer Berücksichtigung des Umfeldes des Kindes realisiert wurde. Nun soll es im Weiteren mehr um die Reaktionen der Kinder gehen, wie sie auf diese Gewalt antworten, sich verändern und Überlebensstrategien entwerfen.

Den Leitgedanken, sich näher mit den Reaktionsweisen der Kinder im Missbrauchs­geschehenen sowie den Signalen, Symptomen und Folgen des Missbrauchs aus­einanderzusetzen, verstehe ich als die Suche nach Merkmalen, die uns als Fachkräf­ten und Außenstehenden bessere Anhaltspunkte für das Vorliegen eines Missbrauchs sowie durch ein erweitertes Verständnis der Handlungsweisen der Kinder eine bessere Orientierung in der Bearbeitung ihrer Schwierigkeiten zu finden.

Die Darlegung der Reaktionsweisen und Signale der Kinder möchte ich hier auf das Feld der sozialen Auffälligkeiten beschränken, zum einen, da der Missbrauch selbst ein zwischenmenschliches Ereignis ist, das sich in der Folge erwartungsgemäß vor allem als Auffälligkeiten im zwischenmenschlichen Miteinander zeigen kann. Zum anderen wird dieses Kind für Außenstehende eben in diesem zwischenmenschlichen Kontakt erfahrbar, selbst wenn die Tatsache des sexuellen Missbrauches noch nicht bekannt ist. Die Ebene von körperlichen Zeichen von Missbrauchshandlungen möchte ich hier aussparen, denn diese sind in aller Regel nur medizinischem Fachpersonal zugänglich und werden auch dann nur nach speziellem Anlass hin wahrgenommen und ggf. überprüft. 

Um es gleich vorneweg deutlich zu machen, weder in unserer Beratungspraxis noch bei der Durchsicht der einschlägigen Fachliteratur konnte ein eindeutiges Zeichen am Kind festgestellt werden, das das Vorliegen eines Missbrauchs offenbart. Auch eine spezifische Kette von Anzeichen, die in der Diagnostik als Syndrom mehrere Merk­male zusammenfassen ließe, konnte nicht ausgemacht werden. Und hierfür gibt es eine große Reihe von Gründen, die hier nur in einem Überblick dargelegt werden können und die insofern im Weiteren von Bedeutung sind, da sie in den Fragen der Verdachtsklärung, Sicherung des Kindes und der Suche nach Unterstützung in der Bewältigung für das Kind von erheblicher Relevanz sind. Denn, da ein objektivierba­res diagnostisches Verfahren zur Aufdeckung und Dokumentation von sexueller Gewalt an Kindern nicht verfügbar ist – und es auch nicht möglich sein wird dieses zu entwickeln – sind wir als Fachkräfte darauf angewiesen, dass uns betroffene Kinder den Missbrauch selber zum Vortrag bringen. Wie ich später noch ausführe, reagieren aber Kinder sehr stark auf die Belastungen aus dem Missbrauchsgeschehen, sodass sie vielfach Anlässe bieten, sich genauer mit ihnen zu beschäftigen. Auch die Belas­tungen und Konflikte, die das Schweigen der Kinder begründen, werde ich gegen Ende näher erläutert.

Bevor ich mich nun auf die Reaktionen der Kinder auf das Missbrauchgeschehen, auf ihre Überlebensstrategien, näher einlasse, möchte ich Ihnen als Orientierung für die Bedeutung der Schädigung, die der Missbraucher am Kind verursacht, zunächst die allgemeine Bedeutung der Abhängigkeit der Kinder von ihrer sozialen Umwelt noch mal ins Gedächtnis rufen, in die der Täter zur Befriedigung seiner Bedürfnisse eingreift.

Die sozialen Grundbedürfnisse der Kinder

Die sozialen Grundbedürfnisse der Kinder sind uns im Grunde sehr leicht verständ­lich. Kinder lösen sich nach der Geburt von der körperlichen Versorgung durch die Mutter. Die weitere Versorgung und Entwicklung des Kindes ist nun von den Hand­lungen abhängig, die die Mutter oder andere primäre Bezugspersonen für das Kind leisten. Die ersten körperlichen Versorgungsleistungen sind sehr sinnlicher Natur und werden später um Anregungen und Unterstützung bei Lernschritten des Kindes erweitert. Hierbei ist der Säugling von Beginn an mit Eigenaktivitäten beteiligt, bei der er in einer Art Dialog die Versorgungsaktivitäten der Mutter mit aufrecht zu erhalten sucht. Er tut dies bekannter Maßen durch Jammern, Weinen, aber auch durch Lächeln. Und die Mutter interpretiert ihr Kind und realisiert daraufhin ihre Versorgungshandlungen. Sie singt, wechselt die Lage des Kindes, nimmt es auf den Arm oder wickelt ihr Kind. Diese Aktivitäten der Mutter werden wiederum durch Aktivitätsveränderungen des Kindes beantwortet. Ohne diesen Dialog, die gegensei­tige Steuerung des Entwicklungsprozesses, ist ein kindliches Leben nicht möglich.

Auf dem Hintergrund dieser existenziellen Angewiesenheit menschlichen Lebens auf die Einbettung ins Soziale, lassen sich nun soziale Grundbedürfnisse der Kinder dar­stellen, die in ihrer Versagung bzw. ungenügenden Erfüllung, Schädigungen nach sich ziehen. Dass es uns Menschen auch nach der Kindheit und Jugend kaum möglich ist, uns von diesen sozialen Grundbedürfnissen zu „emanzipieren“, werden Sie im Saal sicher alle auch schon erfahren haben.

Wie in der Situationsbeschreibung des Säuglings ersichtlich, ist das primäre soziale Grundbedürfnis der Kinder dasjenige, wahrgenommen zu werden und als eigen­ständige Person mit weiteren Bedürfnissen, wie Kleidung, Wärme, Essen, Schlaf, Abwechslung und Pflege etc. anerkannt zu werden. Erst wenn dieses Bedürfnis realisiert wird, erfährt es von der Mutter, dass sie sich auf ihn mit Raum, Zeit und Aktivitäten einstellt.

Dann folgt das Bedürfnis ernst genommen zu werden in seinen Äußerungen, Ansichten und Meinungen. Beispielsweise, dass das Lächeln des Kindes tatsächlich seinen positiven Bezug zur Mutter bedeutet oder das Schreien sein Ausdruck für eine schmerzhafte Mangelsituation darstellt.

Dann hat das Kind noch weiterhin das Bedürfnis, dass es eine rasche Wirkung auf die Mutter hat, sie bspw. zurücklächelt, und damit ihre Verbundenheit mit ihrem Kind bekundet, oder beim Schreien anfängt, die Mangelsituation zu ergründen und das Kind bei deren Bewältigung zu unterstützen.

Das Kind bedarf der Bedeutung, die es von seiner Mutter erhält, wie bspw. ihren Ausdruck der Freude, wenn es lautiert und brabbelt und mit ihr zu „reden“ versucht.

Hinzu kommt, dass das Kind das Bedürfnis hat, bei seiner Mutter Spuren zu hinterlassen. Der Mutter sollte es gelingen, beispielsweise die Entwicklungsschritte des Kindes, Zuwächse an Fertigkeiten aber auch Blockaden derselben wahrzunehmen und in ihrem Gedächtnis zu speichern.

Zudem ist es dem Kind ein hohes Bedürfnis, als einzigartig geachtet zu werden. Es wünscht, unverwechselbar zu sein und eine eigene Identität zu haben. Hier sollte es der Mutter bspw. gelingen, das Kind in seinen Ähnlichkeiten mit anderen Famili­enmitgliedern dennoch als einmalig gegenüber der Verwandtschaft zu verteidigen. Sicherlich kennt jeder hier im Saal noch den unseligen Schauer, als es hieß: „Du bist ja wie dein Vater!“ – und dabei dessen für andere problematische Seiten gemeint und vielleicht gerade die waren, an denen man sich selber in harten Auseinander­setzungen abgearbeitet hatte.

Wie in den vorangegangenen Beispielen schon mitschwingt, ist das Kind darauf angewiesen, dass es von seiner Mutter Wertschätzung erfährt. Es benötigt posi­tive Beschreibungen seiner Person, Leistungen und Fähigkeiten um mit positiver Bestätigung von außen auch positive Ziele und Entwicklungsschritte anzugehen. Bspw. wenn das Kind beim Vorlesen schon die ersten Buchstaben erkennt, es den Vortrag der Geschichte unterbrechen darf und die neue Fähigkeit, nach E nun auch M aus dem Text zu isolieren, Zeit erhält, sich weiter auszubilden. Die auftretenden Verwechslungen von M und N sollten dabei als Erweiterungsschritt zum nächsten Buchstaben N positiv aufgenommen werden.

Zu guter Letzt ist das soziale Bedürfnis des Kindes geliebt zu werden, insbesondere von Seiten des engeren Familienkreises, von erheblicher Bedeutung, stellt es doch das Bedürfnis nach einer sicheren Bindung dar, die in erster Linie von Seiten der Eltern Aktivitäten zur Bestätigung und Aufrechterhaltung der Eltern-Kind-Bindungen bedürfen und dem Kind dabei eine Verortung in den verschiedenen sozialen Bezügen gestattet.

Da wir alle hier im Saal Ähnliches wie unser hier vorgestelltes idealtypisch Kind durchlebt haben und auch heute hier diese sozialen Grundbedürfnissen haben, ist uns sicher allen leicht nachzuvollziehen, wie Kinder auf Ausbleiben einer Befriedigung dieser sozialen Grundbedürfnisse reagieren: mit negativen Gefühlen, zum Teil mit Angst aber auch häufig mit Wut auf den, der nicht bereit ist, diese Bedürfnisse zu befriedigen. Auch unsere in diesen Beispielen häufig zitierte Mutter ist nicht frei davon, und braucht, neben den positiven Rückmeldungen auf ihre Aktivitäten von Seiten des Kindes, auch Anerkennung aus ihrer sozialen Umgebung für ihre Auf­schubs- und Verzichtsleistungen gegenüber eigener unmittelbarer Bedürfnisbefriedi­gung, bspw. ihrem Schlafmangel. Die Wut oder auch die Angst ihres Kindes sind wiederum Anlass der Mutter, diesem in der Bewältigung seiner negativen Gefühle Anregungen und Unterstützungen zu geben, allerdings mit der Kunst, diese im Rahmen eines Konfliktes mit ihm an das Kind heranzutragen.

Nun wissen wir alle hier im Saal, dass es unserer Mutter nicht möglich sein wird, allen Bedürfnissignalen des Kindes prompt Folge zu leisten. Auch manches, das das Kind zum Ausdruck bringt, wird ihr unverständlich bleiben. Den Näherungswert, den die Mutter erfüllen sollte, wird von der Säuglingsforschung als „die hinreichend gute Mutter“ beschrieben, die den Fortgang der kindlichen Entwicklung sicherstellen kann.

Wie aus den vorangegangenen Erläuterungen zu den Risikoprofilen der Missbrauchsfamilien ersichtlich, sind diese Mütter bzw. Familien in besonderer Weise nicht in der Lage, die sozialen Grundbedürfnisse ihrer Kinder zu befriedigen. Bei den Kindern tun sich hier Mängel auf, mit denen sie sich dann verstärkt dem Umfeld zuwenden. Tauchen nun hier Missbraucher in ihrem Umfeld auf, so sind diese mit ihrer absichtsvollen Zugewandtheit für die bedürftigen Kinder rasch in der Lage, das Vertrauen der Kinder zu gewinnen und enge Bindungen zu etablieren.

Gerade die besondere Aufmerksamkeit des Täters für das Kind bindet dieses an ihn. Es findet beim Täter das, was es z.T. noch nie erfahren hat: positive Bestätigung und Beachtung seiner Person. Gerade dieser positive Anteil der Beziehung zum Täter ist es, der die Kinder in Abhängigkeit und eigene Beteiligung bringt, für die sie sich später selbst die Schuld am Geschehen geben. Die Kinder wollen ihre Beachtung, doch den Missbrauch wollen sie nicht. Dies ist eines der Dilemmata, die die Kinder in das Geschehen verstricken. Sie sind loyal gegenüber dem Vater, dem Kumpel, dem Bruder oder dem Onkel. Was sie aber nicht wollen, ist die Gewalt und der Missbrauch.

Mit ihren kleinen Mitteln versuchen sie zunächst selbst den Missbrauch abzuwehren, oder anders zu vermeiden, und dabei gleichzeitig die Beziehung aufrecht zu halten. Zum Schweigen verpflichtet, entwickeln die Kinder eine nonverbale Kommunikation mit dem Umfeld und hoffen, dass dieses ihre „Sprache“ versteht. Die Zeichen der Kinder sind individuell und kreativ und zeigen sich als ihre entwickelten Symptome. Häufig testen sie ihre weiteren Bezugspersonen mit Belastungsproben, um deren Möglichkeiten der Standfestigkeit bei der Annahme ihrer Probleme zu erkunden. Hierbei können sie äußerst herausfordernd und provokativ sein. Das fühlt sich für die vom Kind ausgesuchte Bezugspeson sehr unangenehm an. Wichtig ist, dass diese Person den Anwürfen Stand hält und ein Gespür für die hier vorgebrachte Not des Kindes aufbringt. Nicht selten erlebt das Kind in solchen Situationen erneute Abwer­tung und Zurückweisung. Es findet Bestätigung, dass ihm nicht zu helfen ist.

Soziale Prägungsprozesse

Nachdem die existenzielle Bedeutung der sozialen Bedürfnisse der Kinder hinreichend beleuchtet wurde und auch schon skizziert ist, welcher Gefährdung sie ausgesetzt sind, wenn ein Missbraucher in ihrem Feld sich ihrer bemächtigt, möchte ich noch mal einen Schritt zurück machen und kurz auf die Prägungen des Kindes eingehen, die im sozialen Interaktionsgefüge zwischen primären Bezugspersonen und dem Kind entstehen. Nach der Darstellung dieser Prägungsprozesse sollte rasch nachvollzieh­bar werden, welche prägende Wirkung ein Missbraucher bei den Kindern ausübet und in welchem Spektrum die Kinder auf diese Prägungen antworten.

Die entscheidende Fähigkeit, die in den mütterlichen Leistungen für eine gedeihli­chen Entwicklung des Kindes notwendig ist, ist die der Empathie, des Einfühlungs­vermögens der primären Bezugspersonen in die Situation und Bedürftigkeit des Kindes. In ihrer Interaktion mit dem Kind bildet das Kind auf der Grundlage der durch und über sie erfahrenen Verhaltensmuster eigene Muster sozialen Verhaltens, aber auch der Selbst- und Umweltwahrnehmung, wobei emotionale, sensorische und motorische Informationen vom Kind mitgespeichert werden. Hier bildet das Kind komplexe Antwortmuster auf Erfahrungen, die es mit den Menschen in seiner sozia­len Umwelt erfährt. Auf der Grundlage seines Erlebens der anderen Menschen bildet es die eigenen Fähigkeiten aus, auf seine soziale Umwelt zu reagieren und bildet die eigenen Steuerungsmöglichkeiten des Sozialverhaltens aus. Und das bedeutet zudem, dass auch die komplexen Funktionen des Körpers des Kindes in diesen Steuerungsprozess mit einbezogen sind.

Vorrangig gibt es zwei Arten wie Kindern in der Entwicklung ihrer Steuerungsfähig­keit blockiert werden können:

Es kann dadurch blockiert werden, dass das Kind keine Resonanz von seinen Bezugspersonen erhält, zum Beispiel, keine positive Zuwendung erfährt. Wenn es kein Lächeln von seinen Bezugspersonen erlebt, steht es ihm auch nicht zur Verfü­gung, Lächeln in anderen sozialen Kontexten zu interpretieren und es selbst zur Festigung seiner sozialen Bezügen einzubringen. Als Strafformen kennen wir es wohl alle, wenn andere mit uns schmollen und uns mit „Liebesentzug“ strafen wollen. Und wir sind bestimmt auch hin und wieder verführt, dieses Mittel anzuwenden. Manche kennen es vielleicht als die Erziehungsform des absichtsvollen „Ignorieren“ von unerwünschten Handlungen anderer, die in verhaltenstherapeutischen Programmen auch gerne empfohlen wird. Nun stellen Sie sich vor, wie sich das Anfühlt, gänzlich keine Resonanz zu erfahren, nicht mal einen Strafimpuls, einen Konflikt als Orientie­rung zu erhalten: ein leerer Raum ohne Grenzen entsteht, der stumpf macht oder Angst, wenn er nicht bald gefüllt werden kann. So wird ein Kind zwischen eigener Teilnahmslosigkeit und agierender Suche nach äußeren Grenzen hin und her pendeln.

Erlebt das Kind Schmerzen und Angst vor seinen Mitmenschen, so sind die komple­xen Speicherungen der erlebten Handlungsabläufe ebenfalls abgeflacht oder gar unvollständig. Insbesondere bei überflutenden Schmerz- und Angstgefühlen werden diese im Erleben des Kindes abgespalten und die Gefühlsinformationen werden bei den Speichervorgängen nicht mit aufgenommen. Vielleicht haben Sie auch schon sehr schmerzhafte Erfahrungen in Ihrem Leben gemacht, und erfahren, wie erlösend es für Sie war, in einem Schockzustand das Schmerzempfinden nicht mehr präsent gehabt zu haben. Dass auch Erinnerungslücken dabei auftreten, kennen Sie dann wohl auch.

Kindliche Reaktionen im Missbrauchsgeschehen

In diese bio-psycho-sozialen kindlichen Prozesse greift nun der Missbraucher mit seinen Handlungen ein, und das Kind versucht hierauf mit Überlebensstrategien zu antworten. Diese Überlebensstrategien entwickelt das Kind im Hinblick auf die schon von meinen Vorrednern beschriebenen Kontextbedingungen. Da der Missbraucher bei den häufig selbst bedürftigen Eltern und Familien schon seine wirksamen strate­gischen Vereinnahmungen oder Neutralisierung aufgebaut hat, bestimmt er in seinem Sinne auch deren emotionale Gestimmtheit negativ im Bezug auf das Kind, sodass es zunehmend isoliert ist und noch weniger positive Resonanzen erhält, außer bei ihm. Hier erfährt es Anerkennung und Aufwertungen, die es in seinen sozialen Bedürfnissen weiter an ihn bindet. Gemäß seiner eigenen Fertigkeiten, seines Temperamentes und körperlichen Ressourcen entwirft es seine ihm gemäßen passenden Überlebensstrategien zu dieser Situation. Das Vorgehen des Täters hinterlässt beim Opfer aber sowohl dessen Handlungssequenz wie auch seine eigenen Reaktionsmuster. Hierbei treten spezifische Spaltungsprozesse beim kindli­chen Opfer auf, die in zweierlei Richtung Wirkung entfalten:

da der Täter in seiner Missbrauchshandlung kein Mitgefühl für sein Opfer hat – er unterlässt ja gerade die Schonung des Kindes und zeigt sich unberührbar für die Belange des Kindes – speichert das Kind diese Handlungssequenz eben gemeinsam mit dieser Abspaltung des Mitgefühls aber auch verbunden mit den verführenden Worten oder erpressenden Drohungen des Täters, der damit seine Aufdeckung zu verhindern trachtet.

da das Kind seinem Gefühl der Angst vor den Handlungen des Täters nicht folgen kann – wenn es diesen folgen könnte, würde es mit Flucht oder Aggression sich der Situation mit dem Täter entziehen oder das Fortschreiten verhindern versuchen – muss es sowohl diese Angst als auch die eintretenden Schmerzen innerpsychisch zu entfliehen trachten: es spaltet das Gefühl ab und erlebt sich bspw. wie als Glühbirne an der Decke, als die es von oben die Szene betrachtet und abwartet, wann deren Ende eintritt. Oder es beginnt mit einer Umkodierung der Selbstwahrnehmung, die den Anweisungen des Täters folgt: „das gefällt Dir, Du willst es doch selbst!“

In unserer Beratungspraxis mit kindlichen Opfern erleben wir immer wieder, dass uns Kinder wie unbeteiligt von ihren Beziehungen zu den Tätern berichten. Sie beschrei­ben Teile, die besondere Bedeutung haben, bspw. die Hände oder die Augen des Täters, mit denen er seine Übermacht inszenierte, oder aber eigene Körperregionen und -teile, auf die sich das kindliche Bewusstsein in der Missbrauchshandlung zurückgezogen hatte oder bei denen sie besondere Unempfindlichkeit entwickelt hatten, da sie die Sinnesreizungen dort als nicht ihnen zugehörig neutralisieren mussten. So berichtete uns beispielsweise eine Klientin, dass sie nach jahrzehnte­langem Missbrauch heute keine ausreichende Sinneswahrnehmung mehr auf ihrer Hautoberfläche hat und sich häufig beim Duschen mit heißem Wasser verbrühte, da es ihr nicht möglich war, die Temperatur aufgrund ihrer Körperwahrnehmung zu regulieren.

Insbesondere bei unseren männlichen kindlichen Opfern von Missbrauch erlebe ich bei diesen, wie sie sich mühen, unberührbar zu sein. Viele sind in im Umfeld von Familie oder Schule durch körperliche Attacken auffällig, die von besonderer Schonungslosigkeit für ihre Gegner – aber auch bei Unterlegenheit sich selbst gegenüber – geprägt sind. Das lässt sich auf dem Hintergrund des eben Dargestell­ten besser verstehen, bildet aber auch die Grundlagen für die weiteren besonderen Gefährdungen, die diese Kinder für sich und andere sozusagen „in sich“ tragen.

Bevor ich nun weitere Störungsmuster von sexuell missbrauchten Kinder beginne hier vorzustellen, möchte ich zunächst versuchen, einzelne Faktoren zu verdeutlichen, die für das Störungsbild von Bedeutung sind.

Faktoren, die die kindlichen Reaktionen auf Missbrauchshandlungen beeinflussen

Wie eingangs erwähnt, gibt es kein Leitsymptom oder -syndrom eines kindlichen Reaktionsmusters, das dessen Betroffenheit von Missbrauchserfahrungen belegt. Vielmehr gibt es ein weites Spektrum von Auffälligkeiten, das als Überlebensstrate­gien der Kinder von diesen nach außen getragen wird. Dieses weite Spektrum enthält zum Beispiel folgende Faktoren, von denen die Reaktionen des Kindes abhängig sind:

Das Alter des Kindes, in dem die Missbrauchhandlungen stattfinden.

Mit anderen Worten, der Entwicklungsstand des Kindes ist sowohl im Hinblick auf den Beginn der Missbrauchshandlung wie auch bei Aufdeckung und der weiteren Bewältigung von entscheidender Bedeutung. Hier ergibt sich ein Verständnis für die Bedürfnislage des Kindes, seine Ressourcen wie auch seine erworbenen Entwicklungsblockaden über den Zeitraum der Missbräuche.

In der Praxis beobachten wir häufig bei Jugendlichen, dass es ihnen aufgrund ihrer sich trotz der Belastungen entwickelnden Autonomie gelingt, über den Missbrauch zu sprechen und Hilfe zu dessen Beendigung und Bewältigung zu suchen.

Kleine Kinder, die schon sehr früh Missbrauchshandlungen erfahren, stehen besonders in der Gefahr, diese Handlungen als Normalität zu verarbeiten und die angenehmen Gefühle der Stimulation der sexuell bedeutsamen Nerven­zellen selbst auch bei anderen nachzusuchen.

So fiel ein 3½jähriges Mädchen in einer Kita auf, das andere Jungs aus seiner Gruppe zum „Muschiküssen“ verführte. Der mutmaßliche Täter am Kind konnte nicht überführt werden, da sich bei dem Mädchen kein Unrechts­bewusstsein ausgebildet hatte und es der Familie nicht gelang, sie aus der vom Täter eröffneten machtvollen Selbstwahrnehmung herauszulösen.

Die Beziehung des Kindes zum Täter, wobei auch dessen Beziehung zum Umfeld des Kindes, zu seiner Familie, von vorrangiger Bedeutung sind: je enger die Beziehung zum Täter ist und je mehr dabei weitere Personen in diese Beziehung eingebunden sind und der Täter dort eine Vormachtstellung inne hat, desto schwerwiegender sind die inneren Konflikte des Kindes und der Missbrauch kann sich über lange Zeit hinziehen. Je mehr es dem Täter gelingt, die Bedürfnisse des Kindes nach Anerkennung und Bestätigung zu erfüllen, desto mehr erduldet das Kind auch die Missbrauchshandlungen.

In einem Fall öffnete sich die 15jährige Tochter ihrer Mutter, nachdem der Stiefvater ihre 16jährige Freundin zu sexuellen Handlungen in ihrem Beisein aufforderte. Sie offenbarte ihrer Mutter, dass die Missbräuche an ihr seit ihrem 8. Lebensjahr regelmäßig stattfanden. Dem Stiefvater war es gelungen, über Jahre hinweg eine exklusive Beziehung mit seiner Stieftochter zu unterhalten und dabei gleichzeitig über mehrere Jahre hinweg gegenüber der 16jährigen Freundin eine ähnlich bedeutsame abhängige Vertrauensbeziehung herzu­stellen. Beide Jugendlichen fiel es später schwer, hinter ihren Gefühlen der gegenseitigen Eifersucht die Manipulationen des Stiervaters zu erkennen.

Wie in diesem Beispiel schon angedeutet, spielt vom Standpunkt des Kindes die Frage des Geschlechtes ebenso eine erhebliche Rolle. Das Kind hat je nach eigenem Geschlecht und Geschlecht des Täters unterschiedliche Fragen zur eigenen Identität zu beantworten. So kann bspw. ein Junge, der von einem heterosexuellen Mann missbraucht wurde, die Frage haben, ob er eigentlich homosexuell sei. Aufgrund der in unserem Kulturkreis unterschiedlichen Rollenanforderungen und akzeptierte Verhaltensweisen wird er sich mit dieser Frage befassen. Aber auch bei der Inszenierung oder Veröffentlichung seiner Not wird er diese traditionellen Muster berücksichtigen. Denn er findet hier auch die Schranken der dominierenden geschlechtsbezogenen Vorurteile, sodass er vielleicht befürchtet, bei einer offen gestellten Frage zur Homosexu­alität in seinem Umfeld weitere Abwertungen und Ausgrenzungen zu erfahren und er seine Lösungsmöglichkeiten eingeschränkt sieht.

Die Qualität der sozialen Unterstützung, insbesondere der familiären Bezie­hungen. Bei hinreichend guten familiären Beziehungen und Wahrneh­mungen der Bedürfnisse des Kindes sind eine rasche Beendigung der Missbräuche und eine angemessene Verarbeitung der eingetretenen Irritatio­nen des Kindes möglich. Wenn dem nicht so ist, so möchte ich hier auf die Darlegungen von Frau Dunand verweisen. Sie berichtete ja, welchen eigenen Anteil bedürftige Eltern in der Gefährdung, Aufrechterhaltung und mangelnden Versorgung der durch sexualisierte Gewalt verletzten Kinder haben. Kinder in solchen Familien haben es besonders schwer, dass ihnen widerfahrenes Unrecht geglaubt wird. Aus ihren Familien kennen sie, dass sie für die Hand­lungen und Unterlassungen der Eltern verantwortlich gemacht werden. Sie sind es nicht gewöhnt, sich für ihre eigenen Belange einzusetzen und haben keine Muster entwickelt, sozial angemessen nach Vertrauenspersonen zu suchen und sie für ihre Belange zu sensibilisieren. Im Außenkontakt wieder­holen sie die Macht-/Ohnmachtmuster, die in der Folge auch dort zu unsiche­ren Sozialbeziehungen führen.

Viele unserer männlichen Kinder und Jugendlichen, die Opfer sexuellen Missbrauchs wurden, ob innerfamiliär durch den Vater oder den Bruder oder außerhalb im Umfeld ihrer Clique durch ältere Jugendliche oder einen pädokriminellen Erwachsenen, stammen aus Familien, die dem oben darge­stellten negativen Muster folgen. Als jüngere Kinder phantasieren sie sich häufig in eine Zugehörigkeit zu großen, mächtigen Verbänden von wehrhaften Kriegern, Gangstern oder Cliquen. Bei älteren Jungen, etwa ab dem 11. Lebensjahr, sind diese häufig auch tatsächlich in Cliquen eingebunden, die sie aufgrund der Ablehnungen ihrer Person und Bedürfnisse sowohl in der Familie als auch in der Schule zur Sicherung eines Ortes der Anerkennung, Zugehörig­keit und des Schutzes mit dessen Strukturen der Über- und Unterordnung auch gegenüber Außenstehenden verteidigen. Sie zeigen sich häufig unbe­rührbar und gegenüber den sozial akzeptierten Befriedigungsformen ihrer sozialen Grundbedürfnisse nur schwer zugänglich, da sie die dazugehörigen Sozialformen nicht geübt sind auszufüllen. In der Schule können sie sich auf die sozialen Beziehungen zu ihren Lehrerinnen nicht einlassen und wehren diese und damit auch schulische Leistungen ab, sodass sie auch dort Aus­grenzungen erfahren. Sie sind in einem Teufelskreis gefangen, der sie aus der Integration in ihrer Familie, der Nachbarschaft und Schule zunehmend herauslöst und sie unter aller Absehung eigener negativer Konsequenzen in die Abhängigkeit ihrer delinquenten Clique weiter hineintreibt.

Die hier angegebenen Faktoren sind nur Hinweise, wie die Situation der missbrauchten Kinder und ihre Bedürfnislage von den Missbrauchshandlungen und deren Kontext mitbestimmt sind. In einer genaueren Betrachtung der Situation eines betroffenen Kindes erschließen sich weitere individuelle Einflussgrößen, die ich hier nicht weiter ausführen kann. Bevor ich Ihnen versuche, weitere Zeichen und Signale von Kindern als ein Spektrum weiterer Auffälligkeiten vorzustellen, möchte ich noch kurz auf das Schweigen der Kinder eingehen, das ihnen häufig auch von ohnmächti­gen Helfern wieder zum Vorwurf gemacht wird.

Das Schweigen der Opfer

Wie in der Beschreibung der haltlosen, unzureichend innerlich aber äußerlich abge­grenzten Familien und der bei ihnen zu beobachtenden Vorrangstellung der Bedürf­nisse der Eltern sowie der geschickten Vereinnahmung des Kindes durch den Täter ersichtlich, ist die Konfliktlage Auslöser für das Kind, das schlechte Geheimnis des Missbrauchs zu wahren. Die folgenden Befindlichkeiten können bei den Kindern auftreten:

Missbrauchte Kinder haben Angst:

  • für den Missbrauch bestraft zu werden – da sie ihn bspw. nicht erfolgreich abgewehrt haben
  • dass der Täter oder ein Stellvertreter sie wegen ihrer Aussage zum Missbrauch bestraft – zum Teil sind auch die Kinder selbst oder ihre Familienmitglieder direkt bedroht worden
  • dass sie von der Familie bestraft werden, weil ein Mitglied wegen des Missbrauchs an ihnen ins Gefängnis muss
  • dass sie ihre Kernfamilie verlieren, dass bspw. die Mutter gegenüber dem Stief­vater loyal bleibt und den Kontakt mit ihnen abbricht, und dass sie ins Heim kommen
  • dass die Mutter den Verlust des Vaters/Stiefvaters/Bruders/Onkels/Großvaters etc. nicht verkraftet und zusammenbricht
  • dass ihr soziales Umfeld damit nicht umgehen kann und sie ausgegrenzt werden oder dass Interventionen aus diesem Feld sie überfallen und sie ihre verbliebene Kontrolle über ihr Leben verlieren
  • dass sie die positive Seite der Anerkennung ihre Person, die der Täter ihnen zuvor erfolgreich spiegelte, verlieren und damit auch seine Aufwertung ihrer Person
  • dass ihnen bei der Polizei und anderswo nicht geglaubt wird
  • dass sie vor Gericht gestellt werden

Missbrauchte Kinder leiden unter Ausgrenzungen und Abwertungen, die sie vom Täter aber auch von ihrem sozialen Umfeld erfahren und zeigen geringes Selbstvertrauen, niederen Selbstwert und Rückzugstendenzen. Häufig zeigen sie auch geringe schulische Motivation und Ausdauer

Missbrauchte Kinder zeigen ihre Beziehungsmuster und die darin liegenden Hand­lungsweisen: Macht-/Ohnmachtspiele, Eigen- und Fremdaggressionen, Verantwortungsverschiebung, Verleugnungen, Verdrängungen, etc. ein großer Teil der Kinder wird selbst durch sexuell provozierende, übergriffige oder gar gewalttätige Handlungen gegenüber Dritten auffällig

Die Summe der Auffälligkeiten, die sexuell missbrauchte Kinder aufweisen, ist viel vielfältiger als ich Ihnen heute vorstellen konnte. Was unter Umständen als Last erscheinen mag, dass es kein eindeutiges Missbrauchssyndrom gibt, ist in anderer Weise auch eine Chance. Als Stichwort hierfür möchte ich angeben, dass diese Auffälligkeiten in hohem Maße vom gesamte Spektrum der kinder- und jugend­psychiatrischen Störungsbilder erfasst werden können. Sie finden sich aber auch wieder in den Beschreibungen, die für Lern- und Leistungsblockaden von Relevanz sind. Und nicht zuletzt zeigen die betroffenen Kinder und ihre Familien ein reiches Bild von Störungen, die Anlass bieten, Kontakt zur Jugendhilfe aufzunehmen. Über all diese Störungen der kindlichen Entwicklung können Hilfen für das Kind und die Familien eingeleitet werden, die es aus seiner Isolation herausführen kann. In ihren Symptomen reichen uns die Kinder die Hand, selbst wenn wir nicht genau wissen, was passiert ist. Auch den Eltern, die meist unter den Auffälligkeiten in irgend einer Form leiden, lässt sich hier anhand der Störungen ihrer Kinder ein legi­timer Zugang zum Kind vermitteln. Gelingt es uns in guten Kontakt zu den sozialen Grundbedürfnissen der Kinder zu kommen und hinreichend auf sie einzugehen, so machen wir nicht nur dem Täter das Kind streitig, sondern eröffnen dem Kind damit neue soziale Zugänge, die weitere Problemlösungen möglich machen.

Und, sollte sich unser Verdacht des Missbrauchs nicht bestätigen und das Kind und die Familie nur schrecklich unter anderen Belastungen leide, so haben wir auch nichts falsch gemacht, sondern dort geholfen, wo uns die Kinder die Hand gereicht haben.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit und hoffe, Ihnen mit meinen Ausführungen die Situation der missbrauchten Kinder verständlicher gemacht zu haben.