Hinweise und Folgen bei Misshandlung/ sexuellem Missbrauch:

Obwohl jedes Kind gemäß seiner individuellen Situation verschieden auf Misshandlung und Missbrauchserlebnisse reagiert, gibt es eine Reihe von Hinweisen und Signalen, die als mögliche Hilferufe verstanden werden können. Sie sind als Ausdruck der umfassenden Bemühungen des Kindes zu verstehen, die bedrohlichen Angriffe auf seine Person physisch oder psychisch zu überleben. Die jeweiligen Symptome helfen ihm, einen inneren Ausgleich zu schaffen. Zugleich sind sie aber auch eine verschlüsselte Botschaft oder die dringende Bitte an die Umgebung, die Not des Kindes zu wahrzunehmen und es von einer möglichen Verantwortung von Schuldübernahme und Geheimnisdruck zu befreien. Symptome haben das Ziel auf das Kind aufmerksam zu machen.

Beachtet werden sollte bei der nachfolgenden Aufstellung von Signalen und Symptomen, dass diese immer auch auf andere Ursachen zurückführbar sein können. Wir möchten von daher vor vorschnellen Verdächtigungen und blindem Reagieren dringend warnen, ebenso aber auch vor dem Leugnen bzw. dem Ignorieren von Problemen. Im Verdachtsfall sollte immer ein/e Experte/in hinzugezogen werden, um einer Sekundärschädigung des Opfers vorzubeugen.

Gefühlsebene:

  • Angst, Verwirrung, Scham
  • Ambivalente Gefühle Erwachsenen
  • Misstrauen
  • Schuldgefühle, Selbstzweifel, Zweifel an der eigenen Wahrnehmung
  • Unruhe und Unsicherheit
  • Wut
  • Depressive Symptome
  • Gefühl der Inkompetenz
  • Innere Konflikte bezüglich Sexualität, Geschlechterrolle
  • Gefühl beschädigt, verdorben, schmutzig zu sein

Verhaltensebene:

  • Tendenz zu Verhaltensextremen
  • Altersunangemessenes sexualisiertes Spielen
  • Schlaf-/ Essstörungen
  • Rückzug, Verschlossenheit
  • Festklammern
  • Kopfschmerzen, Bauchschmerzen
  • Problem Grenzen einzuhalten
  • Plötzliches Schulversagen
  • Sexuell provozierendes Verhalten
  • Zwangshandlungen wie exzessives baden, waschen
  • Sexuelles Ausagieren mit gleichaltrigen oder jüngeren Kindern
  • Aggressives Verhalten
  • Vermeiden von körperlicher/ emotionaler Intimität

Während einige versuchen, die Erlebnisse soweit zu verdrängen, dass nur noch die Folgen sichtbar bleiben, versuchen andere, sich von der Last des Geheimnisses zu befreien, wenn auch sehr zögerlich und mit großer Angst, durch Andeutungen bis hin zur Offenbarung.

In der Phase der Offenbarung suchen die Kinder i. d. R. nach Vertrauenspersonen, die bereit sind, die Signale und Hinweise aufzunehmen und sie als Hilferufe zu deuten. Wenn das Kind in dieser Phase niemanden findet, der es in seiner Not wahrnimmt, ihm Glauben schenkt und bereit ist, ihm eine ihm angemessenen Unterstützung zu geben, kann es zu einer erneuten und noch weitergehenden Anpassung an den Täter kommen. Die Angst des Opfers: “Mir ist nicht zu helfen“ wird durch ein Nichthandeln des Umfeldes scheinbar bestätigt. Opfer können sich häufig nur aus ihrer Opferrolle befreien, wenn sie sich vom Täter befreien, d. h. seine Übermacht zerstören.

Dazu brauchen sie qualifizierte Hilfe. Sie kann jedoch nicht darin bestehen, eigene Vermutungen auf das Kind zu projizieren, sondern sein Schweigen zu respektieren und Sorge dafür zu tragen, dass es Raum erhält, Vertrauen findet und sich selbst soweit stabilisieren kann, dass es das, was es sagen will auch sagen kann. Das heißt, dass es seine Wahrheit, seine Wünsche und Erwartungen an sein Lebensumfeld formuliert und mit der Unterstützung der Helfer diese entsprechend klärt.

Wenn die ersten Anläufe des Kindes zur Offenbarung scheitern und hier nicht adäquat reagiert wird, besteht nicht nur die Gefahr einer erneuten Schädigung durch die Reaktionen der Familie und der Umwelt, sondern auch die Gefahr eines fortgesetzten Missbrauchs durch denselben oder andere Täter. Häufig braucht das Kind Jahre, bis es sich traut, sich wieder zu offenbaren.

Es ist auch möglich, dass die Opfer keinerlei Auffälligkeiten nach außen zeigen und sich sehr angepasst verhalten. Ein Schweigen des Kindes schützt es möglicherweise vor einem Opferstatus und ist durch dritte, zu denen auch die Helfer gehören nicht zu manipulieren. In Kenntnis des Hilfeangebotes entscheidet es selbst, was es zu wem, was es wie sagt, zumal es mögliche Folgen selbst tragen muss.

Schädigungen bis ins Erwachsenenalter hinein sind durch ein Verdrängen und Verleugnen nicht abzuwenden. Erlebte Beziehungsmuster und Erfahrungen können sich in der nächsten Beziehung wiederholen, ohne dass die ursprünglichen Zusammenhänge noch erkannt werden können.

Die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs, das Streben nach Veränderung, nach Selbstbehauptung, Abgrenzung und nach bewusstem Aussteigen aus der Opfer- bzw. der Täterrolle bedarf einer persönlichen Entscheidung. Die verständnisvolle und fachliche Begleitung durch die professionellen HelferInnen und durch die dem Opfer nahestehenden Personen ist die beste Grundlage für die Bereitschaft zu einem offenen Umgang mit dem tabuisierten Thema und den damit verbundenen Problemen.

Der sexuelle Missbrauch an Kindern beinhaltet immer auch ein kompliziertes Beziehungssystem von Manipulation, Realitätsverzerrungen, Täuschungen, unklaren Rollen, mangelhafter Verantwortungsübernahme, Schuldzuweisungen und Opfer-Täter -Umkehrungen, das nicht nur den einzelnen Betroffenen und sein Umfeld erfassen kann, sondern auch das System der Helfer, wenn sie einem unbewussten Stellvertreterkonflikt aufsitzen.

Um unmittelbares und verwirrtes Eingreifen auf Seiten der Erwachsenen, die einen sexuellen Missbrauch vermuten, oder Verleugnung zu verhindern, brauchen diese umgehend eine Orientierungshilfe, damit die Gefahr von Sekundärschädigungen des Opfers vermieden wird. Der Kinderschutz muss das gefährdete Kind bzw. das Opfer in das Zentrum der Bemühungen stellen und das Umfeld soweit stärken und stützen, dass es sich im Sinne des Kindeswohls verändern kann.

Kinder in stabilen Beziehungen, die Respekt, Anerkennung, Vertrauen, Zuneigung und Bestätigung erfahren, sind eher in der Lage, sich bei Angriffen zu verteidigen, Geheimnisse direkt anzusprechen und sich nicht einschüchtern zu lassen.

Kinder, die alleine gelassen werden, emotional unsicher bzw. körperlich, seelisch oder geistig bedürftig sind und kein Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten haben, sind eher gefährdet, Opfer von sexuellen Übergriffen und Missbrauch zu werden. Ängste und Unsicherheiten sind keine gute Basis für eine Selbstbehauptung und Verteidigung. Häufig hemmt die, von den Tätern zu dem Kind gezielt aufgebaute, besondere Beziehung und das große Vertrauen zu den Tätern, eigene Schutzmechanismen einzusetzen.

Das betroffene Kind befindet sich in einer Dilemma Situation. Auf der einen Seite wünscht es sich die Aufmerksamkeit, die Geschenke und die Zuwendung durch den Täter. Auf der anderen Seite erlebt es Scham, Schmerzen, Traurigkeit, den Zwang ein Geheimnis wahren zu müssen, Selbstwertmangel, ein Gefühl von Machtlosigkeit.

Zum Umgang:

Wichtig für die erfolgreiche Arbeit mit den betroffenen Kindern ist nicht die Fixierung auf eigene Werte und Erklärungsmuster oder auf ein therapeutisches und pädagogisches Konzept, sondern die Wahrnehmung der Persönlichkeit des Opfers und seiner möglichen Identifikation mit dem Täter. Wenn wir uns nicht mit den Opfern beschäftigen und ihnen den notwendigen Respekt und die Achtung entgegenbringen, die sie so dringend brauchen, sondern ihnen mit eigenen ungeprüften Vorstellungen begegnen, werden sie sich wieder abwenden. Wenn wir den Aspekt, dass es Opfer gibt, die sich mit ihren Tätern identifizieren mussten, nicht in unsere Hilfekonzepte aufnehmen, werden wir sie nicht erreichen. Wenn wir von diesen Kindern erwarten, dass sie sich von selbst und alleine gegen die Täter entscheiden, überfordern wir sie. Häufig brauchen sie verantwortungsvolle Erwachsene, die sich für den Schutz der Kinder einsetzen, um dann in einem sicheren Rahmen alternative Erfahrungen machen zu können und gemeinsam mit Helfern und Bezugspersonen eine neue Lebensperspektive zu entwickeln.

Das Doppelgesicht des Täters:

Entsprechend der „Lichtseite“ des Täters nimmt das Kind den potentiellen Täter zunächst als freundliche, fürsorgliche und hilfsbereite Person, die seine Bedürfnisse nach Zuwendung, Anerkennung und Geborgenheit befriedigt, wahr. Es fühlt sich hingezogen, weil es den positiven Kontakt dringend braucht, sucht es auch selbst den Kontakt. Die ersten scheinbar zufälligen sexuellen Annäherungen versucht es zu entschuldigen. Die „Schattenseite“ des Täters ist gekennzeichnet durch manipulierendes Verhalten, egozentrisches Handeln, mangelndes Mitgefühl etc. Da nur das Kind die „Schattenseite“ kennt und alle anderen Bezugspersonen den Täter als positiven Menschen ansehen, misstraut es der eigenen Wahrnehmung und beschuldigt sich selbst. Das Kind gerät in die Abhängigkeit des Täters und in die Isolation zu anderen es entwickelt ambivalente Gefühle und Loyalitätskonflikte zum Täter, aber auch zu weiteren Familienangehörigen und zum Familiensystem.