Wir freuen uns, dass dem Kinderschutz heute so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Die dramatischen Einzelfälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung, die in den letzten Wochen und Monaten in den Medien diskutiert wurden, haben die Öffentlichkeit wie auch die zuständigen Fachkräfte sensibilisiert. Die Bemühungen um eine Abwendung von Kindeswohlgefährdungen und Risiken, denen Kinder heute ausgesetzt sind, müssen jedoch über die Wahrnehmung solcher spektakulärer Einzelfälle hinausgehen, wenn wir die Not und Hilfebedürftigkeit vieler Kinder im Land begrenzen wollen.

Dabei gilt es zunächst die komplexen Zusammenhänge zwischen kindlichen Entwicklungsbedürfnissen und gesellschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen wahrzunehmen. Das Wohl des Kindes umfasst nicht nur seine körperliche Unversehrtheit, sondern bezieht den Zustand aller Sozialisationsbedingungen mit ein, die ein Kind erfährt und denen es im Guten wie im Schlechten ausgesetzt ist.

*Eine Zusammenfassung des hier vorliegenden Textes wurde bei der Fachtagung „Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung. Unsere Verantwortung für den Schutz von Kindern“ des Landespräventionsrates am 1. September 2004 in Potsdam vorgetragen.

Über das individuelle Beziehungsnetz hinaus gibt es gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die das Wohl aller Kinder mitbestimmen.

Wir alle wissen, dass Armut, Isolation und Arbeitslosigkeit die Chancen für das Wohl-ergehen der Kinder in unserer Gesellschaft beeinträchtigen. Manche Eltern fühlen sich heute mit der Erziehung ihrer Kinder überfordert, andere ziehen sich zunehmend aus der Erziehungsarbeit zurück und hoffen, dass der Staat die positive Entwicklung ihrer Kinder sicherstellt. Besonders in den neuen Bundesländern gilt es, die familiären und individuellen Konsequenzen der gesellschaftlichen Wende im Blick zu halten. Die grundlegende Veränderung der Lebensverhältnisse im Vergleich zu den eigenen Kindheitserfahrungen der Eltern verunsichert manche von ihnen zutiefst und macht viele hilflos und in einigen Fällen auch haltlos im Umgang mit ihren Kindern.

In der Kürze der Zeit ist es mir heute nicht möglich, allen umfassenden Aspekten des Kinderschutzes gerecht zu werden. Vielmehr möchte ich Ihnen anhand unserer Arbeitsweise veranschaulichen, mit welchen Mitteln und Wegen wir Zugänge zu den besonders problematischen Familien, wie sie uns heute hier vor allem beschäftigen, finden. Eine grundlegende Voraussetzung für jede erfolgreiche Hilfe ist dabei der Aufbau von tragfähigem Kontakt.

Unsere langjährige Fachberatungspraxis zeigt, dass gerade Eltern mit vielfältigen und weit reichenden Problemen im Umgang mit ihren Kindern dazu neigen, sich von der Außenwelt abzuschotten. Häufig wenden sie ihre eigenen Beziehungskonflikte nur verdeckt nach außen, in dem sie den Lehrern, Erziehern, Sozialarbeitern die Schuld an der Auffälligkeit ihrer Kinder zuweisen. Gleichzeitig erwarten sie von den Fachkräften, dass diese die Probleme für sie lösen.

Diese Familien sind skeptisch und verleugnend gegenüber jedem Helfer. Öfter neigen sie dazu, Nebenkriegsschauplätze zu schaffen, in die auch Helfer und Institutionen verwoben werden können. Mit fachlicher Kompetenz und Offenheit, zu denen auch die Akzeptanz spezifischer Abwehrhaltungen und Ängste gehört, kann eine Brücke zu diesen Eltern und ihren Kindern gebaut werden. In einem guten Kontakt zwischen Familie und Berater können dann auch schwerwiegende Themen wie Kindesmisshandlung und Vernachlässigung angesprochen und begleitend nach Wegen der Veränderung im Sinne des Kindeswohls gesucht werden.

Die komplexen Konfliktlagen bei Misshandlungs- und Vernachlässigungsproblemen fordern ein differenziertes Handlungs- und Lösungskonzept. Komplexe Probleme bedürfen umfassender Hilfen, die im Kinderschutz oft weit vor den Hilfen zur Erziehung beginnen müssen. Es gilt grundsätzlich die Eltern wie die Kinder in der Wahrnehmung ihrer Situation und in ihren Bemühungen um Veränderung und Verbesserung der Lebensverhältnisse ernst zu nehmen und sie dort „abzuholen, wo sie gerade stehen“.

Weder Stigmatisierung, Dramatisierung noch Bagatellisierung helfen den Kindern und Eltern. Was diese brauchen, ist ein für sie spürbares Interesse der Helfer und deren Zuversicht, dass sie gemeinsam eine positive Veränderung im Sinne des Kindes erzielen können. Wichtig ist, mit den Eltern klar, nicht verleugnend und nicht anklagend, sondern konfrontierend und gleichzeitig akzeptierend umzugehen. Eine adäquate Hilfe kann immer nur für den Einzelfall beurteilt und entschieden werden. Sie hat gute Aussichten auf Erfolg, wenn die Beteiligten in der Problemwahrnehmung übereinstimmen und die Hilfeangebote annehmen können.

Kinderschutz im STIBB e. V.

Das Sozialtherapeutische Institut Berlin-Brandenburg wurde 1991 als gemeinnütziger Verein ins Leben gerufen und ist ein anerkannter freier Träger der Jugendhilfe. Er hat sich die Entwicklung und Realisierung von Hilfen für misshandelte und missbrauchte Kinder im Land Brandenburg zur Aufgabe gemacht.

Das Sozialtherapeutische Institut ist heute im Rahmen der Erziehungs- und Familienberatung mit Schwerpunktaufgaben für Potsdam und Potsdam-Mittelmark tätig und wirkt zudem regional und überregional als Präventions- und Multiplikatorenstelle für den Bereich des Kinderschutzes.

Begonnen hat das Beratungs- und Hilfezentrum im März 1993 mit einem Modellpro-jekt des MBJS in Kooperation mit der Landeshauptstadt Potsdam und mit Potsdam-Mittelmark, für deren Unterstützung wir uns bedanken. Unsere Aufgabe war und ist es, neue Formen der Hilfe für Opfer familiärer Gewalt zu entwickeln, zu erproben und diese auch an die Fachkräfte im Land Brandenburg weiterzugeben.

Unsere Vernetzungsarbeit begann schon 1991 mit Fortbildungen für Fachkräfte der Jugendhilfe und der Gründung unseres überregionalen „Arbeitskreises Kinderschutz“, der von Beginn an multidisziplinär sowohl bei den Referenten als auch bei den Teilnehmern angelegt war und nun seit 13 Jahren zur Qualifizierung und Kooperation der Fachkräfte im Land tätig ist.
Sowohl unsere Beratungspraxis wie auch unsere Multiplikatorenarbeit haben danach ebenfalls die Einbeziehung der Schule als zentralen Ort der Prävention und dementsprechend auch der Lehrkräfte in den Vordergrund gebracht. In jüngster Zeit hat sich dies stark auf die Kindergärten ausgeweitet. ]

Diese überregionale Präventions- und Qualifizierungsarbeit für Fachkräfte wird durch das Ministerium für Bildung, Jugend und Sport unterstützt. Unsere Wanderausstellung gegen sexuelle Gewalt an Kindern wurde inzwischen in mehr als vierzig Brandenburger Orten als ein erfolgreiches Medium der Prävention und der regionalen Vernetzung mit allen für Kinder zuständigen Fachkräften, Schulen, Eltern und der interessierten Öffentlichkeit eingesetzt. Auch die ländlichen Regionen haben inzwischen von der mit Schule und Öffentlichkeit vernetzten Prävention profitieren können. Dieser besondere Präventionsansatz entstand im Kontext jahrelanger multiprofessioneller Beratungsarbeit und orientierte sich am Bedarf.

Das neue überregionale Projekt „Sozialpädagogische Betreuung kindlicher Opferzeugen und ihrer Familien im Strafverfahren“, das in diesem Jahr vom Ministerium der Justiz gefördert wird, hat unter anderem die Aufklärung und Information über den Ablauf von Strafverfahren für die Betroffenen und die Entwicklung von Standards für die Betreuung kindlicher Opferzeugen für die Fachkräfte zum Inhalt. Wir danken für die Unterstützung in der Qualifizierung der Opferhilfe im Land.

Der ganzheitliche Ansatz des Fachberatungs- und Hilfezentrums des STIBB e. V. umfasst Telefonbereitschaft, Krisenintervention, Beratung/Therapie, Betreuung, Begleitung in Krisensituationen und Gerichtsverfahren sowie Multiplikatorenarbeit.
Zu den besonderen Schwerpunkten unserer Präventionsarbeit zählen die offene Kinder- und Jugendarbeit im Mädchentreff/Kleinmachnow und im Kindertreff am Stern in Potsdam.

Der Kinderschutzauftrag für gefährdete Kinder in Potsdam wie auch der Kindertreff am Stern unterstützen die präventive Arbeit in der Landeshauptstadt entscheidend. Mit dem Kindertreff fördert die Stadt eine beispielhafte Kindereinrichtung, die im Verbund mit der Beratungsstelle und gemeinsam mit Fachkräften und Bürgern der Region zur positiven Lebensgestaltung im sozialen Raum mit Aktionen und Festen für kleine und große Menschen beiträgt. Unsere Elterntreffen und die offene Müttergruppe fördern die Elternbildung in der Region. Diese Aktivitäten bringen uns den Menschen näher, insbesondere denen, die unsere Hilfe brauchen.

In akuten Fällen kann auch der Kindertreff schnelle Hilfe gewähren. So rief beispielsweise die Mutter eines Jungen im Kindertreff an, sie hätte sich mit ihrem Sohn so erheblich gestritten, dass dieser sich selbst und die Mutter mit Zündeln und einem Taschenmesser bedrohte. Unser Mitarbeiter begab sich sofort vor Ort und beruhigte unter Hinzuziehung einer STIBB-Beraterin die zuvor eskalierte Situation. Der Junge selbst fühlte sich von uns unterstützt und kommt auch weiterhin in den Kindertreff.

Als freier Träger haben wir die Möglichkeit, die ambulanten Hilfen so flexibel zu gestalten, dass Schwellenängste überwunden werden können. Hierzu gehört auch die Abkehr von der traditionellen „Komm-Struktur“ der Erziehungs- und Familienberatungsstellen. Die Beratung vor Ort – in der Familie, in der Schule oder an anderen gewünschten Orten – ermöglicht den Familien, zunächst einmal in ihrem gewohnten Lebensumfeld zu bleiben und fordert von den Helfern eine hohe Flexibilität.

Um die Chancen in Krisensituationen zu nutzen, vermeiden wir Wartezeiten und vergeben sehr schnell und unbürokratisch Termine.

In der Regel bekommen Eltern und Kinder getrennte Ansprechpartner, um Loyalitätskonflikte zu vermeiden. Zusätzlich besteht die Wahlmöglichkeit zwischen männlichen und weiblichen Beratern.

Niedrigschwelligkeit und Hilfen im Verbund

Das Misstrauen der heutigen Eltern vor Behörden und öffentlichen Institutionen sitzt noch tief, viele haben sie in ihrer Kindheit als Eingriffsbehörden wahrgenommen. Wenn diese Eltern von Dritten ans Jugendamt verwiesen werden, fehlt ihnen häufig noch das Vertrauen und die Offenheit, über eigenes (Fehl-) Verhalten ausreichend zu reden. In vielen Fällen sind sie eher bereit, sich an einen freien Träger zu wenden, der ihnen zunächst Anonymität garantiert. Notwendige Schritte im Sinne des Kindeswohls werden mit ihnen nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitet. Gerade besonders gefährdete Kinder und deren Familien brauchen eine Stärkung und Motivation von außen, um sich den Konflikten zu stellen und sich Hilfe zu holen.

Die Anonymitätsgarantie für 19 Beratungsstunden in unserem Einzugsbereich Potsdam und Potsdam Mittelmark geben Kind und Familie  für einen begrenzten Zeitraum die Chance, unser Beratungsangebot kennen zu lernen und für sich zu bewerten. Mit dieser Unterstützung sind abwehrende Familien eher bereit, die Kontaktängste zum Jugendamt zu überwinden und dort aktiv Hilfe für sich zu beantragen. Grundsätzlich hat sich das Konzept der persönlichen Vermittlung und Begleitung zu weitergehenden Hilfen bewährt.

Die Effektivität unserer hausinternen Vernetzung von Prävention und Beratung/Therapie sowie nach Bedarf direkter Krisenintervention in unserer Kinderschutzarbeit wird durch die hohe Zahl der Selbstmelder bestätigt.

Unterschiedliche Zugänge zur Beratung

Als Fachberatungsstelle werden wir nicht nur regional, sondern auch landesweit von den Hilfesuchenden oder in besonders komplexen Einzelfällen auch von Jugend-ämtern außerhalb unseres Zuständigkeitsbereiches angesprochen. Diesen Zugang für die Fachkräfte konnten wir durch unsere jahrelange Multiplikatorenarbeit in Branden-burg und insbesondere über unseren überregionalen Arbeitskreis Kinderschutz im SPFW in Blankensee entwickeln.

Über diese Fachkontakte kommen immer wieder Berater oder Sozialarbeiter anderer Einrichtungen mit ihren Klienten zu uns, um gemeinsam die anliegenden Probleme und weitere Hilfewege zu besprechen. Für diese Familien bedeutet der Aufwand eine hohe Beachtung ihrer Person, was ihre Bereitschaft, sich den eigenen Themen zu stellen, sehr stützt und den anfragenden Beraterinnen Sicherheit im weiteren Umgang vermittelt.
Häufig nutzen die Fachkräfte aus anderen Bereichen (Schule, Heimerziehung usw.) das Telefon, um eine Fachberatung für sich in Anspruch zu nehmen. Durch gemeinsame Reflexion des Falles unterstützen wir sie, weder in Panik zu verfallen noch zu bagatellisieren, sondern emotional Distanz zu gewinnen und adäquate Hilfe zu organisieren. Dabei können wir die Möglichkeiten und Grenzen von fachlichen Vorgehensweisen wahrnehmen und gemeinsam nach gangbaren Lösungen für die Kinder und ihre Familien suchen.

Einen weiteren frühen Zugang zu den Kindern ermöglicht uns das erfolgreiche Prä-ventionsprojekt „Gegen Gewalt an Schulen“, das im vergangenen Jahr u.a. an 147 Grundschulen und Kindergärten stattfand und auch 2004 weiterhin stattfindet. Gerade in Kindergarten, Schule und Horten geben Kinder Signale, wenn sie in Not sind und Hilfe brauchen. Allerdings bedarf es hier, wie auch an anderen Orten, wachsamer und mutiger Erwachsener, die bereit sind, die Hilferufe wahrzunehmen und sich um kompetente Unterstützung für das Kind zu bemühen.

Über das mehrjährig angelegte Gewaltpräventionsprojekt werden wir zunehmend auch in Einzelfällen von LehrerInnen, SchulleiterInnen und ErzieherInnen angesprochen, um Hilfe bei Verdacht von Misshandlung oder Vernachlässigung eines Kindes oder Schülers zu suchen. Hier geben wir Orientierung per Telefon bzw. fahren selbst zur Schule oder zum Kindergarten und beraten vor Ort die möglichen Schritte.

Zum Beispiel meldete sich ein Schulleiter bei uns. Mehrere Jungen klauten unter-einander Geld, Essen und Trinken, waren verbal und körperlich aggressiv, auch gegenüber jüngeren Schülern. Im Fachgespräch wurden Prävention im Klassenverband, Elternabende und Einzelgespräche mit den Jungen vereinbart.

In den nachfolgenden Beratungen wurde deutlich, dass der bestimmende Schüler in gravierenden und gewaltsamen Familienkonflikten steckte, die er in Rollenumkehr an Mitschülern ausagierte. Gemeinsam mit der Klassenlehrerin konnten die Eltern zur Familienberatung motiviert werden. Dieser Verbund verschiedener Hilfen ermöglichte eine positive Veränderung sowohl im Klassenverband als auch im individuellen Verhalten der einzelnen Jungen aus der Clique.

Seit Beginn der Beratungsstelle ist die Zahl der Hilfesuchenden, die über die Ämter, Schulen, Kindergärten, Ärzte, Polizei, andere Beratungsstellen und private Vermittlung zu uns kamen, ebenso wie die der Selbstmelder stetig angestiegen. Sie beläuft sich inzwischen auf insgesamt über 3100 Neuzugänge. Dies spricht für ein gewachsenes Vertrauen in der Bevölkerung wie auch für eine gute Kooperation mit den verschiedensten Institutionen. Unter diesen Fällen gab es eine beträchtliche Anzahl von erheblicher Kindeswohlgefährdung, die mit unserer intern vernetzten Hilfe und der externen engen Kooperation beendet und für das Kind positiv verändert werden konnten.

Unsere fachliche Haltung in der Beratung

Nicht die Fokussierung auf Misshandlung oder Vernachlässigung steht im Zentrum unseres Hilfeansatzes. Wir nehmen die jeweils aktuell von Kindern und Eltern vorgebrachten Themen auf und bieten Hilfe für die gesamte Familie an und beziehen vom Einzelfall ausgehend gegebenenfalls die Problemsicht und –lösungen aus dem Umfeld der Familie mit ein.

Hierzu gehört vor allem, dass wir als FachberaterInnen nicht mit vorgedachten und geplanten Methoden, eigenen Wertvorstellungen und festgefügten Problemsichten den Klienten begegnen, sondern offen und partnerschaftlich die Beratung gestalten.

Die Offenheit gegenüber den Problemsichten der Betroffenen sowie die Kontextualisierung der Familienprobleme versetzt uns auch in die Lage, sehr schnell etwaige Anschuldigungen von Kindern, Jugendlichen, Müttern oder anderen involvierten  Personen problemorientiert aufzunehmen und sie auf ihren Anlass hin zu überprüfen sowie Lösungen für den Problemhintergrund möglicher Falschbeschuldigungen zu erarbeiten.

Bei vorgetragenem Verdacht von möglicher Kindeswohlgefährdung, wie Misshandlung und Vernachlässigung sie darstellen können, sehen wir es als unsere Aufgabe, eine aktuelle Gefährdung der Kinder zu prüfen und gegebenenfalls den Schutz der Kinder zu sichern. Zur Klärung dieser Kindeswohlgefährdung ist es wichtig, den jeweiligen familiären bzw. Gefährdungskontext näher zu beleuchten und nach schützenden und das Kind sichernden Personen zu suchen. Dabei ist es für uns entscheidend, dass diese Bezugspersonen für ihre Schutzfunktion intensiven Beistand erhalten, damit sie stark genug werden, selbst die Entwicklung des Problems zu erkennen und die damit zusammenhängenden Bedingungen wahrzunehmen. Sie sollten dann auch in der Lage sein, sich mit unserer Hilfe einem möglichen Konflikt zu stellen, wenn sie fortgesetzte Gefährdungen sehen.

In solchen Fällen finden wir es trotz des unter Umständen gebotenen Handlungsdrucks wichtig, dass die uns vorgestellten Kinder und Jugendlichen selbst die Zeit und den Raum bestimmen, über ihre Sichtweisen zu den genannten Problemen zu reden.

Eine besondere Aufgabe unserer Fachberatungsstelle sehen wir darin, für Familien mit komplizierten Gewaltdynamiken zur Verfügung zu stehen, die sich von selbst an uns wenden. In der Regel sind diese wie weiter oben erläutert äußerst misstrauisch gegenüber Helfern, sie testen im Erstkontakt, ob wir die Richtigen sind, ihre schwierige Familiensituation auszuhalten und ihre Probleme zu verstehen. Die Eltern haben häufig einen großen Leidensdruck und berichten, dass sie ihre Kindern nicht schädigen wollen, aber ratlos sind, wie sie ihre Lebenssituation noch verändern können.

Es ist besonders wichtig, einen belastbaren Kontakt zwischen Familie und Beratern aufzubauen. Auf dieser Basis kann die Thematisierung der Kindeswohlgefährdung eher von den Eltern angenommen, die Einschätzung der Gefährdung nachvollzogen sowie die Bereitschaft entwickelt werden, gemeinsam nach Wegen des notwendigen Schutzes für das Kind zu suchen.
So rief zum Beispiel eine Mutter eines vierjährigen Kindes an. Sie erklärte, dass ihr Partner ihr Kind misshandelt und sie schon häufiger geschlagen habe. Sie selbst hatte große Angst vor der Rückkehr des Mannes und wollte sofort Hilfe. In diesem Fall fuhr eine Beraterin in die Familie und versuchte mit der Mutter zunächst zu klären, wie akut die Bedrohung war, und prüfte mit ihr innerfamiliäre Lösungswege. Da solche nicht gefunden wurden, nahm sie Mutter und Kind mit in unsere Beratungsstelle. Während das Kind von uns betreut wurde, klärten wir mit der Mutter zusammen die weiteren Schritte. Da sie immer noch große Angst äußerte, ihren alkoholisierten Mann zu treffen, und das Frauenhaus für sie nicht in Frage kam, wurde sie kurzfristig in unserer anonymen Schutzwohnung untergebracht. Unser Angebot, mit dem Mann zu sprechen, entlastete die Mutter und bot der Familie erstmals eine Chance von neuer Verständigung. In der nachfolgenden Klärungsphase konnten Sichtweisen geändert und somit die Motivation für eine mittelfristige Familienberatung aufgebaut werden.

Zentrale Ansprechpartner in der Familie sind häufig die Mütter. Sie sind diejenigen, die zuerst Kontakt aufnehmen und Veränderung in der Familie initiieren wollen. Auf-grund ihrer eigenen Geschichte, die oftmals durch selbst erlebte Traumata, Miss-handlung und mangelnde positive Bindungserfahrung geprägt ist, fällt es einigen von ihnen, obwohl sie hoch motiviert sind, schwer, genug emotionale Kapazität für die Belange ihrer Kinder zu entwickeln. Dabei geraten auch wir gelegentlich an unsere Grenzen, wenn es um die Sensibilisierung für die kindlichen Bedürfnisse geht. Gelingt es nicht ausreichend, die Mütter so weit zu stabilisieren, dass sie die Gefährdungen für ihr Kind begrenzen können, so stellt sich die Frage, ob Väter oder andere Bezugspersonen für das Kind verbindlich da sind oder eine ambulante Hilfe tatsächlich ausreicht.

Eine weitere Besonderheit unseres Ansatzes ist, dass wir mit den Verursachern der Kindeswohlgefährdung in direkten Kontakt treten. Unsere Erfahrung zeigt, dass diese häufig nicht nur auf das Kind einwirken, sondern auch – und im verstärkten Maße bei sexueller Gewalt – das direkte Umfeld hoch manipulativ für sich einnehmen. In solchen Fällen von Gewalt im Kontext der Familie werden diese Verursacher von uns mit den Folgen ihrer schädigenden Handlungen konfrontiert. Da sie spüren, dass uns ihre Strategien und Vorgehensweisen bekannt sind, gelingt es uns in vielen Fällen, sie zur Verantwortungsübernahme für ihr Tun zu bewegen. Hierzu kann auch gehören, dass sie umgehend die Familie verlassen müssen. Dieses Eintreten für die Interessen des Kindes ist für das Kind enorm entlastend. Mit einer gelungenen Klärung ist es einer Familie besser möglich, ihre weitere Perspektive zu finden, zu der auch eine Strafanzeige gehören kann.

Bei dem Umgang mit Gewalt in der Familie ist zu beachten, dass wir den Aspekt einer möglichen Identifikation mit dem Aggressor im Blick behalten. Eine solche Identifikation kann zum Beispiel bedeuten, dass die Mütter bewusst oder unbewusst die Haltungen der Täter übernehmen, diese auch vor den Helfern vertreten (z.B. Verleugnung von Misshandlung) und die Aussagen ihrer Kinder für unglaubhaft erklären. Wenn diese Problematik nicht durchschaut wird, sind Helfer in Gefahr, sich an einem verleugnenden System zu orientieren, das die Schädigungen des Kindes vertuscht, ausblendet oder in Kauf nimmt.

Auf der Basis der hier beschriebenen fachlichen Haltung halten wir folgende Handlungsschritte in der Fachintervention für effektiv:

Es gehört auch zu unserem Kinderschutzauftrag, dass wir uns bei fortgesetzter Kindeswohlgefährdung umgehend mit dem Jugendamt in Verbindung setzen und nach weiteren Lösungsmöglichkeiten suchen. In Einzelfällen muss bei akuter und fortgesetzter Gefährdungssituation die Frage der Trennung des Verursachers oder des Kindes von der Familie in Betracht gezogen werden. Nach unserer Erfahrung kann die Einschaltung des Familiengerichts einer akuten Kindeswohlgefährdung durch Klärung der angemessenen Hilfen und durch Begrenzung der Gefährdung mit Auflagen und Maßnahmen begegnen.

Wir dürfen an dieser Stelle auf den Beschluss der Jugendministerkonferenz von 1991 hinweisen, der unter anderem Folgendes zum Ziel gesetzt hat: das Kind nicht alleine zu lassen, ihm zu glauben, es zu schützen und zu begleiten. Dies gilt auch dann, wenn vorläufig ungewiss bleibt, was im Einzelnen geschehen ist. Die Hilfe für das Kind erfordert von uns Helfern die Bereitschaft, an der Seite des Kindes zu stehen, seine Hilfebedürfnisse zu begreifen und sie zur Grundlage weiterer Schritte zu machen.

Justizieller Kinderschutz

Im Folgenden möchte ich noch kurz auf die Besonderheiten der Gefahrenabwehr durch eine Strafanzeige bei sexuellem Missbrauch eingehen.

Auch eine strafrechtliche Intervention bei sexueller Gewalt gegen Kinder kann eine Abwendung von Kindeswohlgefährdung bedeuten. Wichtig für uns ist dabei, dass das kindliche Opfer selbst in seinen Interessen wahrgenommen wird und es familiären und fachlichen Beistand erhält.

Besonders in Strafverfahren bedarf das Kind in der Regel eines besonderen Schutzes durch einfühlende Begleitung vor, während und nach dem Verfahren, aber auch durch rechtlichen Beistand im Verfahren.

Unsere jahrelange Praxis als Begleiter kindlicher Opferzeugen in Strafprozessen macht deutlich, dass eine Unterstützung der Kinder und ihrer Familien auch zu einem erfolgreichen Strafprozess beitragen kann. Kinder, die sich sicher und angenommen fühlen, sind in jedem Fall besser in der Lage, die Anforderungen im strafrechtlichen Verfahren, was z.B. ihre Aussagefähigkeit und Genauigkeit angeht, einzulösen. Viel-fach haben wir auch erfahren, dass der erfolgreiche Ausgang eines Strafprozesses die geschädigten Kinder erheblich entlasten kann. Öffentliche Anerkennung seines Leides und seiner Glaubwürdigkeit können dem Kind wie auch seinen Eltern helfen, traumatische Erfahrungen besser zu verarbeiten.

Eine Strafanzeige und die Verurteilung eines Täters ersetzen jedoch nicht die not-wendigen Hilfen, die das geschädigte Kind in seinem Umfeld zur Bewältigung seiner Erfahrungen und zur Entwicklung von neuen Lebenschancen braucht.

Wichtig für den Kinderschutz wie auch für die Opferhilfe sind die Aufmerksamkeit der Erwachsenen für die Kinder sowie das Signal, dass wir uns gemeinsam für ihre Interessen und ihr Wohl einsetzen.

Vielen Dank für Ihre geduldige Aufmerksamkeit.